In Liebe (
Euer Hund)

Ein verreckter Hund
liegt in der regennassen Gosse. Ich trete vor.

In seinen Augen steht
wie eingebrannt die Klageschrift:


"DER MENSCH HERRSCHT!

Betet ihn an,
bettelt um Gnade,

daß er nicht auch Euch für
unwichtig genug hält.

Nicht für einfach überflüssig ...

Denn sonst wird er zuschlagen,
wie nur er es kann,

DENN ER IST DER MENSCH!

In Liebe Euer Hund."

 

 

 

 

 

Der alte Mann (Ein Leidensweg-Eine Liebesgeschichte)



Sein Gang war gebückt und sein Blick war leer.

Der alte Mann richtete den Mantelkragen auf.

Der Mantel war uralt und sein farbloses Grau übertrug sich auf den alten Mann.



Die Gasse war weiß von Schnee.

Ihn fröstelte.

Der Schnee fiel in dicken weißen Flocken und verzauberte das Bild der Öde,
in die er hineinstapfte.

Ein Fuß vor den anderen.

Er hatte Hunger.



Die dunklen Häuser strichen an ihm vorbei.

Sein Blick fiel auf Reihen von Fenstern, bemustert mit Eisblumen.

Er wusste nicht wohin, - er wusste nur vorwärts.

Er musste Vergessen finden.
Vergessen vor dem Gestern, als er noch glücklich war.

Er hörte jemanden lachen.

Der Schnee fiel in dicken weißen Flocken.

Er sah seine Frau, seine Kinder.
Sie liefen ihm entgegen.

Der Schnee fiel immer stärker.

Er wischte mit der Hand über die müden alten Augen.
„Tot.“ murmelte er.

Er phantasierte in den letzten Tagen oftmals so stark,
daß es ihm unmöglich schien Halluzinationen als Einbildungen zu erkennen.
Die Wirklichkeit schien bedeutungslos.
Die Eindrücke verwischten.

Er kniff die Augen fest zusammen, bis sie tränten.

Ein Hustenanfall schüttelte seinen geschwächten Körper.

Taumelnd musste er stehenbleiben.
Die Knie knickten ein.

Der Husten löste einen Krampf im Magen aus, der ihn aufstöhnen ließ.

Er presste seine klammen Finger gegen die Bauchdecke.

Alles war so kalt.

Er blickte auf seine Hand hinunter.
Die Fingerspitzen waren bläulich angelaufen.

'Wie bei einem Sterbenden', dachte er.



Er musste ins Warme.
Eine Mahlzeit.

Er blickte zu den Häusern, deren Umrisse bei diesem Schneegestöber kaum mehr auszumachen waren
und ein ungerechter Hass auf diese Wesen in ihren warmen wohlbeheizten Wohnungen
verdunkelte seine Gefühle.

Er war von Neid erfüllt und er wusste es.

Wohnte er denn nicht?
Es war zu lange her.

Die Straße war seine Heimat geworden.

Er hatte nicht mehr gefragt.

Menschen, die ihm auf der Straße - seiner Straße – begegneten,
schauten ihn vorwurfsvoll an.
In ihren Augen stand stets das Gleiche geschrieben.



Einst -
vor unendlich langer Zeit - war er einer von der ihren gewesen.

Voller Ignoranz dem Leben gegenüber und -
eigentlich nur sich selbst.

Immer darauf bedacht Mauern zu bauen um sich und alles andere.

Ihm wurde übel.



Ein dunkler Schatten wuchs aus dem Weiß der Straße heran.

Zwei grelle Strahlenfinger erfassten den alten Mann, der schützend die Arme hob.



Jeder Gedanke währte Jahrhunderte.
Der Körper wie Stein.

Der alte Mann spürte etwas schwer gegen ihn schlagen, erfassen, herumwirbeln
und wie ein totes Blatt im Herbst achtlos beiseiteschleudern.

'Ein Automobil!'



Er betastete seinen Kopf.
Er war gegen den Kantstein geschleudert worden.

Ein plötzlicher scharfer Schmerz durchzuckte den kleinen hilflosen Körper,
brannte in ihm -
die Standarte der Befreiung aus dem irdischen Dasein,
zerrte und riss in ihm - bis seine Augen brachen.



Nun würde er niemals mehr Qualen erleiden müssen!

Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem letzten Lächeln.

Ein endgültiges Zucken.
Der Körper fiel in den Schnee, der sich langsam rot färbte.

 

Er gehörte nun dem Gestern.

Zärtlich schließt er seine Familie in die Arme.


 

 

 

Eine bemerkenswerte Geschichte

Ein kleiner Junge stand an einem großen Baum, der an einer großen Straße stand, und schaute auf seine Murmeln, die glitzernd den staubigen Gehweg verzierten.
Er bückte sich, müde geworden des einsamen Spiels, als über ihm ein kleiner Vogel zu singen begann.

Der kleine Junge lächelte und der kleine Vogel sang.
Sein Lied berührte das Wesen des Kindes so zart, dass es sich spontan bückte, eine Murmel aufnahm und diese dem kleinen Vogel entgegenstreckte.
„Kleiner Vogel, komm und spiel mit mir!“

Doch der kleine Vogel sang sein Lied zum Entzücken der Welt und bemerkte ihn nicht.

Der kleine Junge warf die Murmel hoch hinauf, in der Hoffnung diesen lustigen Zeitgenossen doch zum Mitspielen zu bewegen.
Die Murmel fiel unbeachtet zurück auf die Erde.
Der kleine Vogel sang sein Lied hoch droben auf dem Baum, unerreichbar für das Kind.
Welten trennten diese beiden feinen Seelen.

Enttäuscht sammelte der kleine Junge seine Murmeln zusammen, als ein paar größere Jungen, die dem Schauspiel von der anderen Straßenseite aus beiwohnten, sich mit gewichtigen Gebärden zu ihm gesellten.
„Du machst das falsch!“ behauptete der eine und mit einem klügelnden Blick auf das Kind:
„Du bist ja auch viel zu klein.“

Sprachs, nahm einen faustgroßen Stein, den er zu dem kleinen Vogel hoch warf, der von dem ganzen Geschehen keine Notiz nahm, und sang.
Sang für die Schönheit und Freiheit jeglicher Lebewesen auf der großen, weiten Welt.
Der dritte Stein traf den kleinen Vogel und schleuderte ihn vor die Füße der Jungen.

Fassungslos starrte der kleine Junge auf das Geschehen.
Triumphierend trat einer der älteren Jungen überlegen und fast genüsslich die letzten Reste Leben aus dem kleinen Körper.
„Siehst du?“
Und sie gingen.
Und mit ihrem Fortgang kam die Stille.

Die Hände des kleinen Jungen zuckten. Es wurde ihm heiß und kalt zugleich.
Er stammelte sinnlose Worte und die Tränen schossen haltlos über seine Wangen.
Der kleine Junge kniete nieder, beugte sich runter zum kleinen, leblosen Sänger, der niemals wieder seine Stimme erschallen lassen wird.

Zitternd strichen kleine Finger über blutige Federn und Sand.
„Ich wollte ... wollte – doch – nur spielen ... nur spielen ...“
Hier versagte seine kleine Stimme.

 

 

 

 

Eine Welt voller Welten


Einsam treibt das Schiff in die Nacht.

Hinter dunklen Wolken offenbart sich die Weite der Welten.

Rauschende Wasser spielen vergessene Waisen in die Finsternis hinein.

Eisiger Wind zieht von Norden herauf und treibt die Wolken, wie eine Schafherde, vor sich her.



Ein unscheinbares Licht erscheint am Horizont.

Sanft und rot schiebt sich die Silhouette des Mondes über die verhüllte Erde,
und der Himmel, überfüllt mit hellen gleißenden Sonnen,
preist seinen Aufgang.

Die ersten, tastenden Lichtstrahlen tanzen über die Wasser und lassen abertausende Formen sichtbar werden:
Geschichten in der Ewigkeit,
niemals geboren, und doch schlummern sie in den gewaltigen, dunklen Tiefen
und erzählen den stillen Bäumen und den stummen Steinen
von ihrem ihrem Weg durch das All der Welt; - von der Entstehung der Welt und ihrem Untergang.

In einem Fluß aus Zeit tanzen Wassertropfen,
übereinander, nebeneinander, verschmelzen miteinander, trennen sich nur - um sich wieder zu vereinigen.
Einmal leuchtet ihr Antlitz der Schale des Mondes entgegen,
dann findet man sie wieder auf dem tiefsten Grund aller Tiefen.

Prächtig schillernd im Spiel der einfallenden Lichter, doch selbst farblos,
treiben die Tropfen durch Nächte und Tage,
erfüllt mit der Sehnsucht ob ihrer eigenen Versuchung: zu sein was sie sind ...

Ein Fragment, das erkennt nur einen Teil des Ganzen zu bilden,
harrt in der Hoffnung zurückzukehren – eine Heimat zu finden.
Es ist kalt dort.



Der Mond steht inzwischen als Glanzpunkt am Himmel.
Seine silbrigen Strahlenfinger wandern durch Myriaden von Sternen,
die die Weite des Nachthimmels ausfüllen und ihre glänzende Pracht darbieten.

Der Wald rauscht unheimlich in dieses Bild hinein
und malt ein bedrohlich schönes Ebenbild des eben erwähnten.

Keine Wolke verschleiert nunmehr das Bild der Unendlichkeit innerhalb derer das Schiff geschaffen wurde.

Leise und ruhig bewegt es sich durch die Wasser, an dessen Enden schwarze Felsklippen,
wie eine riesige schwarze Grenze, dem Wasser den Zugang versperren.

Zwei dunkle schwarze Wälle, von deren Zinnen der große Wald mahnend herabschaut.

Das Schiff schaukelt sanft im ziehenden Wasser und seine Statur spiegelt sich tausendfach auf den kleinen Wellen wider.

Fast beängstigend groß – im Widerschein der Nachtmusik – reckt sich in der Ferne ein Gebirge in die Nacht.



Auf dem Deck des Schiffes verraten knarrende Dielen die Anwesenheit seines Menschen.

Ein alter Mann tritt in die kühle Nacht hinaus, auf seinen Armen trägt er ein schlafendes Kind.

Der Wind streicht durch sein ergrautes Haar und in seinen Augen spiegelt das Licht des Mondes.

Ein Lächeln umspielt sein Gesicht, doch auch Ungewißheit und nagende Sorge.

Seine Augen versuchen die Nacht zu durchdringen.
Er scheint zu warten.



Ein flammender Punkt am Horizont.

Erst nur so groß wie ein beliebiger Stern,
reitet mit wildem Gelächter eine einzelne Gestalt aus einem Roß aus Feuer,
in flammende Winde gehüllt, über das verschlafene Land hinweg.

Über wartende Bäume und lauschende Menschen.

Über Aufstieg und über Zerfall.

Wie winzige Punkte erscheinen die massiven Wälder, verschwinden ins Nichts.

Dunkle Seen,
in deren Wassern sich die vergessenen Märchen jahrtausendealter Kunst widerspiegeln,
bleiben verlassen und ungelesen zurück.

Stolze Städte,
deren Höhepunkte voll rasender Lebenssucht lange schon
zu einem festen Bestandteil der Vergangenheit geworden waren,
deren Lehren zerschmettert und schließlich aufgefressen wurden vom eilenden Fluß der Veränderungen.

Alle Zeit ist nur eine Zeit und ein Wechsel der Umstände.

Langsam, fast stetig, nähern sich Pferd und Reiter dem treibenden Schiff.



Im flammenden Widerschein, weitertreibend, scheint das Schiff sich zu erinnern, -
an ein Leben, welches erfüllt schien mit Sinn und Zweck;
Tage, wo es wußte zugehörig zu sein, nützlich zu sein und -
daß es etwas gab, was seinem Leben,
konnte man innerhalb seiner Existenzdauer überhaupt von so etwas sprechen,
ein Ziel und damit eine Richtung gab.

Nun schienen diese alten Tage und ihre Erinnerungen wieder in ihm zu sein:
Seine Bohlen und Planken erstrahlten von einem unirdischen Licht und einer Wärme,
die Leben und Kraft verprachen.

Hätte das Schiff all dieses und noch mehr erleben können;
Es hätte die Welt in sich aufgenommen und alles, jede Freude des Welt wäre nun in ihm.

So aber treibt es, scheinbar unberührt von all dem,
wie in stiller und schmerzlicher Agonie,
gebadet in Erinnerungen aus vergangener Süße und verlorenen Träumen.



Nur wenige Augenblicke über dem Schiff verharren die Kreaturen.

Flammen umlodern diese seltsam furchtbare Erscheinung,
die mit schaurigem Grinsen auf einem Feuerroß thront, -
wie zum Gespött aller bestehender Gesetze der Welt.

Beide, in der Luft stehend, schwebend über den Wassern, tauchen die Umgebung in eine unwirkliche Lichterflut.

Schattenspiele in den Bäumen und Felsen,
heißer Atemzug über das stille Land hinwegziehend.

Rote Klippen, gleißende Wasser und ein alter Mann auf einem treibenden Schiff.



D
ie Augen des alten Mannes begegnen nun dem unirdischen Blick des Reiters
und er erkennt sein Leben, -

er sieht das Universum, sich selbst und seine Welten: Stellungen, Richtungen, Motivationen und Ursachen.
Farben gleich ziehen Zeiten voller Zukunft an ihm vorbei - werden ein fester Bestandteil der Vergangenheit.

Er sieht Feuer und er sieht Eis...

Er erlebt den ewigen Kampf dieser einzigen beiden Urgewalten,
eingebettet in ein drittes,

und er begreift die Entstehung seiner Welt:

Lichtstrahlen durchbohren die Ewigkeit.
Aus ihrem Abfall entspringt das Leben.

Er sieht den Menschen das Land erobern, andere Menschen -
und schließlich sich selbst ...

Dieses und noch mehr erkennt der alte Mann, im Anblick des Reiters gefangen,
der, auf seinem Flammenroß thronend, den Himmel zu beherrschen scheint.

 



Eine verkörperte, allgewaltige Macht liegt in den Zügen des Wesens,
welches nun den Arm ausstreckt und auf das Kind deutet.

Der alte Mann nickt, wie in stummer Zustimmung.

Er versucht dem Blick des Wesens zu fliehen und den Kopf zu senken,
doch er kann dieser Macht nicht weichen.

Tiefer und tiefer zwingen die blicklosen Augen des Reiters ihn in seinen Bann.

Der alte Mann fühlt seine inneren Widerstände zusammenbrechen;
er empfindet ein ziehendes Grausen und eine aufsteigende Kälte dort,
wo sein altes Herz sein Blut durch die Adern pumpt.

Er vermag keinen klaren Gedanken mehr zu fassen,
als aus dem ausgestreckten Arm der Kreatur eine Flammenbahn herausbricht und sich
auf das Schiff niedersenkt, das sofort Feuer fängt.



Prasselnd und knackend lösen sich die ersten Holzplanken aus ihrer Verankerung
und die ersten züngelnden kleinen Flammen lecken gierig nach den Beinen des alten Mannes,
der in seiner scheinbaren Teilnahmslosigkeit verharrt.

Der helle Flammenschein des sterbenden Schiffes wirft schaurige Schattenbilder über die ständig unruhiger werdenden Wasser, auf die stillen Felsklippen.

Ein vom Nachtwind zufällig herbeigewehtes Blatt treibt abwartend an der unwirklichen Szenerie vorbei, und verschwindet in der Vergessenheit.



Das Schiff lodert nun hell, wie eine riesige Fackel, in die dunkle Nacht hinein.

Es hat schon längst jenes verloren,
um dessentwillen zum Zweck es einst erdacht und erschaffen wurde.

Traurige Träume begleiten den letzten Weg seines Lebens:
Junger Pflanzenwuchs,
krönend den Erfolg seiner Entstehung, bildet sich heran zu mächtigen Bäumen;
Phantasien der Erde,
deren Gedanken und Wünsche Gestalt geworden waren, dämmern,
warten auf den Moment der heiligen Erfüllung.
Ihre gewaltigen Äste den Sternen entgegengereckt, suchend ...

Dann kommt der Mensch
und mit ihm kommen Schmerz und Tod.
Sein Weg heißt Vernichtung.
Sein Same Tyrannei.
Bäume fallen unter seinen Schlägen und was ist Gerechtigkeit?



Ein flammendes Mahnmal auf einem dunklen Fluß..

Ein alter Mann, umschlossen von Flammen.

Die Hitze reißt Risse in austrocknendes Leben.

Das schlafende Kind ist fort – und mit ihm die Kreaturen.

Der alte Mann weiß nicht wohin,
und er verschwendet auch keinen Gedanken daran.

Er lächelt.
Allem Vergangenen zum Trotz.
Und sieht den Weg seines Weges sich kreuzen.

Er gibt sich hin,
läßt sich hineinfallen in das unabwendbare Lied des Todes und verliert nichts.

Sein Weg ist nun sein Schicksal und noch immer lächelt er ...

Noch lange, als schon die gierigen Flammen nach der zarten Blüte seines Lebens lecken
und vielleicht noch,
wenn er und das Schiff schon längst ein Teil der Wasser – des Stromes geworden sind.



Ein letzter Gedanke eilt zu dem Kind
und in seinem ganzen Bestand weiß der alte Mann nun, daß es niemals eine Zukunft gab und niemals geben wird.

Alles war, ist und bleibt stets ein Teil der Gegenwart,
rinnend auf einem viel gewaltigeren Strom – dem Strom der Zeit – dem Strom aller Zeiten.

Dem Strom des Lebens.
Dem Strom der Welten.

Ein letztes Aufleuchten und dann ist es vorbei;
das Schiff zerfällt in seine Bestandteile und mit ihm der Mensch.

Die Wasser zischen, dampfen, als die glühenden und brennenden Teile seinen Leib berühren,
aber sie begehren nicht dagegen auf, -
sie scheinen sich nicht daran zu stören.



Die Wasser kennen keinen Schmerz
und so verschwinden auch die letzten Reste dieser Geschichte in den Fluten des Stromes.

Treiben voran mit dem Strom auf der ewigen Suche:
Vom Anfang zum vermeintlichen Ende,
nur um dort erneut aufzubrechen – niemals anhaltend,
längst schon ein Teil des Stromes geworden,
immer vorwärts – in eine neue Welt.

Zurücklassend
die stille Nacht mit ihren Myriaden von Sternen,
dem längst schon im Zenit stehenden Vollmond,
die dunklen Wälder und die schwarzen Felsklippen.

Alles,
was dieser Geschichte angehörte oder nur beiwohnte,
treibt der Strom nun weiter fort.
Fort von einer anderen Wirklichkeit.

In der wir nur Beobachter waren ...

 

 

 

Eine andere Wirklichkeit

 

Ein unbekanntes fliegendes Objekt zieht eine silbergraue Bahn am Himmel.

Ich schaue mich um.
Und dann kommen sie, Fliegen gleich scharren sie sich um mich herum, um auch zu sehen:
Wissenschaftler, Sensationslustige, Reporter, Besserwisser, ehrlich Fragende, Polizei, Militär, Neugierige und Mitwisser.

"Wie weit müssen solche Wesen uns voraus sein ?"
haucht eine von Ehrfurcht erfüllte Stimme.

"Ja, wie weit ?" betet ein anderer das fremde Ding an.


Ich muss lächeln. Ich weiß.

Ich weiß zumindest, dass auch ich ein Fahrzeug brauche, um von Hamburg nach Köln zu gelangen.

 

 

 

 

 

 

In einem kurzen Augenblick voller Schönheit

Es war in einer Zeit, die alle Zeiten umfasste. Irgendwann dazwischen.
Vor dem riesigen Raumschiff lag, eingebettet in ein Meer von Dunkel und Licht, unser blauer Planet in seiner ganzen gewaltigen Schönheit und Faszination vor uns.
Blaugrün, vermischt mit weißen Wolken, rot-gelb zog er an uns vorbei.

Gestern noch stand die Erde, die Sonne, das ganze Sonnensystem irgendwo anders im unendlichen Weltenraum. Weiter schwingend auf seiner ewigen Bahn.
Das Raumschiff, wie ein metallener Fisch in diesem Meer aus Lichtpunkten, die sich zögernd auf seiner glatt polierten Oberfläche widerspiegelten.

Es war eine Analogie auf all das, was Menschen fähig waren zu erschaffen:
Die Sehnsucht nach den Sternen.
Die Trennung vom Mutterkörper.
Der Wunsch nach Ungebundenheit.
Der Same, den die Menschheit fähig war zu zeugen...
Die Eroberung des Raums war wie der erste tastende Schritt Gott in unserem Körper zu begegnen. Wir wurden wagemutiger, als die Natur sich immer mehr der Technik beugen musste und unser Sieg war der Weltraum!
Doch machen mich solche Gedanken heute seltsam betroffen. Vielleicht, weil ich ahne, dass wir dabei mehr verloren haben, als es überhaupt zu gewinnen gab?

Im Inneren des Raumschiffs herrschte ein reges Treiben. Menschen liefen durcheinander, brachten Teile hierhin, Informationen dahin, hier wurde etwas ausgewechselt, dort etwas hinzugefügt. Es war ein Lärmen, ein Hämmern, Summen, Schwatzen und Klicken von Millionen von positronischen Bedienungselementen und ID-Computerblöcken.
Alles war vorher abgesprochen worden und sie hatten fast alle ausnahmslos zugestimmt hier zu sein, um das Projekt zu verwirklichen oder zu begleiten. Alles war, bis ins kleinste Detail, ausgearbeitet worden. Man hatte verstanden die notwendigen Maßnahmen zu treffen, damit es auch wirklich keine unschuldigen Opfer gab. Für die Übriggebliebenen war gesorgt.
Tausende von Space-Vids und von Tonnen von Ausrüstung waren eingeflogen worden, um das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte aufzuzeichnen. Die SpaceVids hantierten aufgeregt an ihren 4D-Sonden herum, damit keine Fehler passierten, wenn Zeugnis abgelegt werden sollte, über einen weiteren Triumph der Menschheit.
Trotz der bevorstehenden Euphorie über das kommende Spektakel, oder gerade deswegen, hatte sich etwas in die Gemüter eingeschlichen, das dem bevorstehenden Ereignis etwas ungewisses, dunkles, sogar unheimliches und beängstigendes verlieh. Es war eine spürbare Spannung unter den verantwortlichen Besatzungsmitgliedern entstanden, die wohl hauptsächlich auf dem Kompromiss fußte, unangenehme alternative Denkansätze, also die Dinge, die im Ideenansatz all das Geschaffene für hinfällig erklärten, weit von sich weg zu weisen und mit verdoppelter Anstrengung an der Richtigkeit des Projekts zu arbeiten. Vielleicht hatte es aber auch etwas mit der letzten, der endgültigen Entscheidung zu tun.

Aber das istnatürlich nur eine Vermutung, und langsam begann diese seltsame Stimmung sich auch auf die mehr oder minder unbeteiligten Zuschauer auszubreiten. Und obwohl die Entscheidung einstimmig war, sah jedermann natürlich auch deren verantwortungsvolle Tragweite und deren letztendliche Folgen klar vor sich. Dies führte schnell zu kleineren Diskussionsgruppen unter den Zuschauern, um die, wie Flugfalter, SpaceVid-Sonden herum kreisten, die jede Nano-Sekunde der Geschehnisse aufzeichneten, für die spätere vollständige Reproduktion der HoloTid-Matrix.
Diese Matrix wurde zeitgleich in alle 9000 bewohnten Sternensysteme der Vereinigten Sternenflotte transformatiert, wo alle nicht Anwesenden den großen Moment im Original miterleben konnten. SpaceVid speichert nämlich keine Gerüche, Töne oder Bilder, sondern nur die reinen Zeitscheiben. Das ist aber nicht so gefährlich, wie es sich jetzt vielleicht anhört. Doch folgen wir den Diskussionen.

Ein junger Mann sagte gerade:
„Wir sprechen doch hier über Kunst. Kunst entsteht in einem besonderen Augenblick, als etwas Einmaliges und im Grunde Unwiederbringliches. Es scheint wie ein kraftvoller Moment der inneren Offenbarung. Ein Moment, der uns den Zugang zum Erleben der Wirklichkeit gestattet.
Und natürlich muss jeder für sich selbst bestimmen, was er dabei für sich selbst herausfinden kann.
Und, ...“ Der junge Mann musterte sein Gegenüber. Der ältere Mann schien nachdenklich den gesagten Worten hinterher zu lauschen. Man sah an der Erregung des Redners, dass das Gespräch schon mehrere Höhepunkte hinter sich gelassen hatte.
„und das ist die innere Wahrheit unseres Projektes.“
Der ältere Mann nickte zustimmend. „Doch“, wandte er ein, „sollten, ach was, müssen wir uns darüber im Klaren sein, das wir hier nicht über ein farbiges Abbild der Wirklichkeit sprechen, bzw. auch nicht über ein Lebewesen im Allgemeinen. Wir meinen doch damit den Menschen und dessen Möglichkeiten und seine Erfahrung. Doch, wenn wenn wir über den Menschen sprechen, denn dies ist ein Menschenprojekt, müssen wir auch das Verständnis dieser speziellen Situation gegenüber berücksichtigen. Wir können demnach nicht danach messen, was heutzutage „wirklich“ zu sein scheint. All das ist in Wahrheit nur ein Überbau, der sich an den Erfahrungen der Vergangenheit orientiert...“
Er zögerte kurz und warf einen Blick in die riesige Halle, die, neben dem gewaltigen Panorama-Komplex, durch HoloTid-Matrixen in unendlich viele kleine Räume und Ebenen aufgeteilt war, und beobachtete, wie auch andernorts das Feuer der Unsicherheit aufloderte und hitzige Diskussionen vorantrieb.
„Also ist das Verständnis über das Projekt auch ein Teil der Vergangenheitsbewältigung.
Denken sie kurz an die Vergangenheit. - Was taten wir damals eigentlich über die Jahrtausende hinweg geschaut, - welche Erkenntnisse glaubten wir gesammelt zu haben, oder sogar neu zu finden und zu was hat uns das letztendlich befähigt?“

Die Ratlosigkeit, aber auch die Bedeutsamkeit dieser Worte hallte gleichzeitig in dem kleinen HT-M-Zuschauerraum nach.
Räume aus HoloTid-Matrixen hatten durchaus Vorteile. Da ihr System, dass im Grunde nach den Lehren des Philosophen Albert Einstein arbeitete, was natürlich bezüglich der Geschwindigkeit der tatsächlich-echten und der wahrgenommenen Zeit wiederum relativiert werden musste, war es einfach, die Energiewandler der HT-Ms mit jeder physikalischen Eigenschaft auszustatten. So konnte die Materialbeschaffenheit, wie auch die Dichte, die Helligkeit, die Temperatur, die Gerüche oder Geräusche oder der besondere Inhalt einer Matrix mit den Gehirnen und Wünschen der Menschen stimuliert und in Echtzeit produziert werden. Gedanken, Gefühle und die Empfindungen des Körpers konnten in der Tat Unglaubliches leisten. Und durch die vollständige Umwandlung des Geistes und seiner Vorstellungen wurde jeder materielle Stoff zu einer schier unerschöpflichen Energiegrundlage. Jede HT-M war in der Lage, neben seiner Eigenschaft jede beliebige Form anzunehmen bzw. jede beliebige Stimmung zu verarbeiten, sich mit jeder anderen HT-M-Einheit zu verbinden. Endgültige Formen waren ein Luxus, den sich nur Privilegierte leisteten.
Alles schien uns damals möglich.

Für einen Menschen aus der Vergangenheit wäre es sicher sehr schwer gewesen, diese besondere Situation bzw. die Grundlage dieses Gespräches überhaupt zu verstehen. Für uns alle war es damals DAS Gesprächsthema.
Gespräch scheint ein falsches Wort. Mit Hilfe der HT-Ms wurden die Schwingungen der gesagten Worte in allen möglichen Bedeutungen gleichzeitig dargestellt und die Wahrscheinlichsten in das Verständnis-Netz eingegeben. Natürlich behielt man den Zugriff auf alles gesagte, das Ausgesprochenen, wie auch das Unausgesprochene. Vor vielen Generationen soll sogar ein großer Krieg darüber ausgebrochen sein, der sehr viel zerstörte. Doch dann begann die Erneuerung und heutzutage finden sich solche Begrenzungen nicht mehr.

Es war kein Streit der die Diskussion führte, aber eine Ungereimtheit war entstanden, ein Fragezeichen. Und vielleicht damit auch der Zweifel an der Richtigkeit unseres Tuns.
Kunst war das Thema und ihre besonderen Eigenschaften oder Fähigkeiten.
Kunst entsteht in einem Augenblick, der die Zeitspanne zwischen Werden und Beurteilung umfasst. Sie beeinflusst die Zukunft und lehrt uns die Gegenwart.
Zumindest ist das die gängige Meinung, die uns half unsere Entscheidung zu treffen.

Die riesige Halle zwitscherte, knarrte und summte.
Die beiden Gesprächspartner waren aufgestanden. Beide waren in Gala-Uniformen gekleidet, denn an diesem Nachmittag sollte das große Ereignis stattfinden, das Projekt zum Abschluss gebracht werden, ein endgültiger Schritt in das Unbekannte gewagt werden.
„Sehen sie?“
Der ältere der beiden zeigte auf den Panorama-Komplex, der schon jetzt die Hälfte des Zentrums der Halle ausfüllte. Überall waren kleine Sterne sichtbar geworden, die die Verbindungen mit den SpaceVid-Sonden anzeigten. Es war, als wäre der Weltraum zu uns gekommen. Es war ein sehr erhabener Anblick. Wie unscheinbar die Menschen nun wirkten, die sich, wie winzige Insektoiden in dieser Halle postierten. Durch die flimmernden Energiefelder schimmerte das bunte Licht der echten Sterne hindurch und gab dem Komplex das Bild einer reflektierenden Transmatrix. Es war wunderschön. Winzige, zarte Punkte und dann die Erde, die sich mit den ersten Farben anmeldete.
„Sehen sie die Sterne?“ Der junge Mann beobachtete, wie sich das Licht der Sterne im Licht der SpaceVid-Kanäle brach und den Komplex mit Regenbogen-Schauern überzog. Er nickte.
„Sterne sind wie wir Menschen“, fuhr der Ältere fort, „Jeder strahlt für sich auf einer besonderen Wellenlänge und mit seinen besonderen Eigenschaften. Jeder Mensch sendet seinen Rhythmus, wie ein pochendes Herz, in die Weite des Universums. Doch er beschränkt sich dabei auf das Verständnis seiner Wahrnehmung...“ „Und das ist es doch genau, was ich damit meine.“ fiel ihm der Jüngere ins Wort. „Jeder für sich und zusammen bilden sie das Universum! Jeder kann seinen eigenen, privaten Anteil an dem gesamten Wunder der Schöpfung beitragen. Und es gibt ständig neues zu entdecken und zu lernen!“
Der ältere Mann kniff ein Auge zu und schmunzelte. Der junge Mann, selber überrascht von diesem Ausbruch, rang nach Luft, um wieder zu Worten zu kommen.„Ich vermute,“ der ältere Mann produzierte gleichzeitig friedliche, aber auch bestimmte Symbole, „dass sie in ihrem Euphorieüberschwang zu leicht die Wirklichkeit, oder das, was wir dafür halten, vergessen. Natürlich wäre es wundervoll, wenn Menschen dem Drang der eigenen Vervollkommnung folgen würden. Sie könnten entdecken, dass die scheinbar unfehlbaren Gesetze des Kosmos vielleicht nichts anderes sind, als Übergänge oder Vorhänge, Dimensionsüberlappungen oder Brücken. Und jeder kann nun an diesen gefundenen Wirklichkeiten teilhaben.“
Der Jüngere nickte zufrieden über den Verlauf des Gespräches.

Die Energiegitter des Komplexes begannen sich zu verbinden und es gab eine heftige Licht- und Hitzewelle, die sich quer durch den Raum bewegte. Natürlich waren die HT-Ms vorgewarnt worden und auch die Uniformen reagierten umgehend. So erfasste nur ein lauer Windhauch die beiden. Der ältere der beiden wirkte auf einmal sehr bestimmt, als er sagte: „Das ist ein Problem des Kunstverständnisses heutzutage. Der Traum trennt sich von der Wirklichkeit. Während alles genau über Jahrhunderte geplant wurde, besteht nun das so erzeugte Ergebnis bestenfalls aus einem zufälligen Ereignis.“
Dies sagte er mit Nachdruck. Der junge Mann schaute ihn erstaunt an. Wurde hier nicht die Grundidee des Projektes verspottet? Als er gerade zu einer Gegenrede ansetzen wollte, gewahrten beide, wie weit die Vorbereitungen schon fortgeschritten waren. Die Erde nahm schon ein gutes Drittel des Sichtfeldes ein. Auch der Panorama-Komplex begann schon kurzfristig flackernd Formen und Farben zu erzeugen. Fraktale Spiralen tanzten zwischen den Kanälen hin und her, aber da war noch nichts, an dem sich das Auge festhalten konnte. Surren und Knistern, Aufregung und Hektik bestimmten das Bild. Und auch Spannung und etwas Ungereimtes...
Bald war es also soweit.

Sie befahlen dem HT-M sich in eine höhere Position zu begeben und beschlossen sich mit den äußeren Rängen des Energiegitters zu vereinigen. Dadurch gewannen sie einen doppelten Blick auf das Geschehen. Über ihnen der künstliche Himmel und der Blick auf den Weltraum und unter ihnen der Panorama-Komplex. So etwas, wie das Spiegelbild der Sterne. An diesem Ort konnten sie ihr Gespräch fortsetzen.
„Lassen sie mich ihnen das eben gesagte verdeutlichen,“ sagte der Ältere. Er rückte den Kragen seiner Uniform zurecht, auf der stolz das Wappen der Vereinigten Sternenflotte im Licht der aufgehenden Erde blitzte und funkelte. Er zeigte auf die Sterne. „Ich habe mit Bedacht die Sterne als Gleichnis gewählt. Schauen sie. Hinter jedem Lichtpunkt steckt eine Sonne, ein bestimmter Sonnentyp. Wir finden blaue Riesensterne, weiße Zwerge, rote Sonnen, gelbe, wie unsere, grüne Sonnen und Ballungen von Zeitlosigkeit, die wir als schwarz interpretieren. Wir finden das gesamte Farbspektrum und Sonnen, die jenseits davon senden. Schwingungen, die nur durch spezielle Messgeräte aufzuspüren sind. Und ich fürchte, eben da liegt das Problem.“
Er wandte sich kurz ab und gab dem jungen Mann die Möglichkeit das eben Gesagte aufzunehmen.
„Ich verstehe nicht, was, -“
„Sie werden gleich verstehen, worauf ich hinaus will.“ unterbrach ihn der Ältere. „Wir Menschen haben die Fähigkeit erworben Dinge an ihren Veränderungen zu erkennen. Aber diese Veränderungen halten wir in künstlichen Maß-Kategorien fest. Wir produzieren unglaubliche Abhandlungen über diese Künstlichkeit, aber wird sie dadurch wirklicher?
Stellen wir uns ein sehr kleines Kind vor, welches in einen vorher präparierten Raum gebracht wird. Existenzielle Grundlagen werden ihm natürlich zur Verfügung gestellt.
Für einen kurzen Moment wird der Raum erhellt, um dem Kind eine Möglichkeit zur späteren Orientierung zu geben. Dann versinkt der Raum in Dunkelheit. Danach wird jeder Kontakt mit dem Kind abgebrochen.
Es ist, wie mit dem Glauben an einen Schöpfer, bis wir die Macht der Bedeutung lernten.“
„Sie spielen auf das philosophische Konstrukt eines Über-Gottes an?“
„Nein,“ widersprach der Ältere „das ist eine andere Frage. Was ich meine ist dies. Der Mensch lebt in kosmischen Maßstäben gerechnet noch nicht einmal für den Bruchteil einer Sonnenschleife und glaubt nun, in diesem relativen Augenblick, seinen Platz und die Gesetze im Kosmos bestimmen zu können. Messbar und bewiesen durch die von uns erfundenen Gerätschaften und deren Maßeinheiten...“ Der Ältere nickte versonnen, eingefangen von der Vorstellung seiner eigenen Gedanken. Der Jüngere schaute verständnislos drein. Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, was sie durch diese Gedanken zum Ausdruck bringen wollen.“ Der HT-M-Raum verdunkelte sich kurz, als eine erneute Licht- und Hitzewelle aus dem Komplex heraus brach. Der Jüngere fuhr fort. „Im Grunde sehe ich keine Unterschiede zwischen unseren Argumentationen. Ihre scheint der meinen identisch. Der Mensch, Wunderwerk und Vollkommenheit, geschaffen im Getriebe der Schöpfung auf seinem ihm allein eigenen Weg. Der Mensch bestimmt seinen Platz zum ersten mal selbst. Schauen wir in die Vergangenheit der Menschheit. - Kunst bestimmte die Phasen unserer Entwicklung und jetzt ist die Kunst vollendet. Ein erster Schritt die Vergangenheit abzulegen und hinter uns zurück zulassen!“ Die HT-M begann in diesem Augenblick die geistigen Bilder direkt in die Wahrnehmung des Älteren zu produzieren.
„Nein, sie verstehen absolut überhaupt nichts!“ rief der ältere Mann erregt aus. „Bedenken sie mein Beispiel. Wird das Kind etwas anderes in diesem dunklen Raum erkennen oder für wirklich erklären, als das, was ihm für einige Augenblicke durch seine Sehorgane zugänglich gemacht wurde? Und selbst wenn er in der Dunkelheit herumkriecht, wird die Grundlage jeder neuen Entdeckung der kurze Augenblick der wahrgenommenen Orientierung sein.“ „Natürlich.“ Der junge Mann nickte.
„Also wird er alle anderen, auf sensorischen Wegen ermittelten, Daten auch nur anhand jener Sekunden überprüfen. Nehmen wir an, das Kind will den Raum wieder verlassen. Ein Raum, der nun ausgefüllt wurde mit seinen relativen Erinnerungen und sensorischen Phantastereien. In wie weit glauben sie, entspricht, nach einer genügend langen Zeitperiode, das Bild des Kindes noch der tatsächlichen Wirklichkeit? Und wie viel ist nur noch Traum?
Stellen wir uns weiter vor, hinter jedem vorhandenen Ausgang des Raumes wäre ein Abgrund, tief genug das Kind in den Tod zu stürzen.“
„Eine erschreckende Vorstellung.“
„Was ich versuche ihnen damit zu verdeutlichen ist, dass der Mensch sich viel zu sehr auf vorgegebene oder angenommene Wahrheiten stützt, die er in für ihn zugänglichen Räumen gefunden hat. Beschreibungen einer Wirklichkeit, die sich im entscheidenden Moment vielleicht als völlig unzulänglich, also überhaupt nicht den Erfordernissen der Situation entsprechend, herausstellen kann.“
Der Ältere unterbrach sich kurz. Dann fuhr er fort. „Nehmen wir ein weiteres Beispiel. Wenn wir das gesamte Wissen der Menschheit zusammenfassen, integrieren in einen TransO-Impuls, wer trifft die Auswahl? All dieses Wissen über Physik oder Chemie oder das Wissen über die Grundfunktionen eines Kinderspiels. Das Auftreten der Flora und Fauna und das Wissen über Geschichte. Was bestimmt die Wertigkeit oder die Reihenfolge?
Welche Momente der Geschichte waren wichtig? Wer trennt „Wichtiges“ von „Unwichtigem“?“ Wie auch immer wir es jetzt auch drehen und wenden, der TransO-Impuls wird nur mit subjektiven Informationen gefüllt! Um es deutlicher zu sagen, ich spreche hier von künstlichem Wissen. Erworben durch künstliche Apparate oder angepasster Sichtweise. Und wenn sie das eben gesagte scharf ins Auge fassen, werden sie feststellen, dass diese Sichtweise sich ebenso auf die Entwicklung eines Menschen beziehen lässt.“
Wieder legte er eine Pause ein.

Der junge Mann schien verwirrt. Und wieder verdunkelte sich der Raum. Die Endphase kam näher. Die Erde füllte den künstlichen Himmel des Raumschiffes fast vollständig aus. Im Panorama-Komplex hatten sich wallende Nebel gebildet, die in verschiedenen Formen und Farben ineinander flossen. Immer mehr Sonden schalteten sich in die Kanäle ein.
„Es ist eben nicht so, wie sie anfangs sagten.“ setzte der Ältere erneut an „Hier nämlich trennen sich die Wirklichkeit und der Traum. Oder die Wunschvorstellung und die Wirklichkeit... Jeder von uns ist die Summe seines Verständnisses über – irgendwas. Wir nehmen uns selbst und unsere Sichtweise für wichtig und wertvoll. So spinnt jeder Mensch, entschuldigen sie den Ausdruck, aber spinnt sich seine eigene kleine Wirklichkeit zusammen, anhand der Informationen, die ihm auf seinem Lebensweg als achtenswert erschienen oder auf eine andere Art wertvoll wurden. Den Rahmen aber bildet seine jeweilige Kultur, die für seine schulische oder gesellschaftliche Ausbildung sorgte. Für sein Gerechtigkeitsprinzip oder die Auswahl seines Geschlechtsverhaltens. Zufällige Strömungen vermischen sich mit lang ausgearbeitetem pädagogischen Zielvorstellungen. Information ohne objektive Verifikation ergibt bestenfalls Zufallsergebnisse. Sie. Ich. Wer von uns weiß denn wirklich etwas mit absoluter und unanfechtbarer Sicherheit?“
Pause. Die riesige Halle zwitscherte, knarrte und summte.
„Doch nicht nur das von uns angenommene Wissen unserer Kultur und deren Beschreibung durch künstliche Merkmale und Apparate haben die Menschheit und den Menschen selber beeinflusst.
Uns ist sogar beigebracht worden unsere Sinne auf eine bestimmte vorgegebene Weise zu gebrauchen. Oder unsere Hände auf eine vorgegebene Weise zu benutzen. Und sicher sind, durch HoloVids, heutzutage viele dieser Möglichkeiten enorm erweitert worden, trotzdem produzieren sie sich, bis auf den heutigen Tag, in vorgegebenen Bahnen, die wir, in vorgegebener Weise auch nicht hinterfragen! Wenn das unsere Rechtfertigung für die Wirklichkeit sein soll, welche Alternative bietet uns dann der Traum?“ In diesem Moment bildete sich ein Friedenssymbol, vermischt mit Gleichstellung und Ablehnung allem Fremden gegenüber, im Kopf des Jüngeren. „Im Rahmen dieses Erkennens halte ich subjektive Kunst, und darüber sprechen wir doch wohl, für einen schlechten Witz.
Heute produziere ich vielleicht ein geniales Sonett, morgen schon fehlt mir jeder Beweis dafür, dass es auch tatsächlich von mir produziert wurde. Ganz zu Schweigen von der Möglichkeit dieses Geschehen zu wiederholen.“
„Sie sprechen von den Augenblicken der inneren Offenbarungen, die solche Kunst in uns erschaffen?“
„Im Gegenteil. Ich spreche von Zufallsergebnissen. Eine Art von Prostitution, die dem Beifall zuliebe lebt. Denken sie nur an die Sportereignisse in der Vergangenheit. Oder die Medienindustrie.“
Er machte wieder eine kurze Pause um erneut anzusetzen.
'Das ist ein Weiser oder ein Narr.' dachte der Jüngere. Die Rede des Älteren hatte einen gewissen Reiz.
„Sollte Kunst einem Zweck unterworfen werden oder das Ergebnis von Zufallsergebnissen, also dem Resultat aus Ungewissem und Bedeutungsvollem, bleiben? Kunst ist, wie eine allgemein gültige zeitunabhängige Kultursprache und bietet sich für diesen Zweck doch hervorragend an.
Und wenn wir in uralten Kunstwerken auf jahrtausende Jahre altes Wissen stoßen können, warum müssen wir uns mit 4D-Projektionen von archaischem Gemüse schmücken, oder abstrakten Abbildern historischer Projektionen? Die heutige Kunst tut nichts dafür das Wissen zu vermehren oder echte Alternativen aufzuzeigen. Heutige Kunst bleibt auf zufällige Ergebnisse beschränkt, die nicht nur vom augenblicklichen Erleben des Künstlers abhängig sind, sondern auch oder gerade von seinem Verständnis der Kultur innerhalb der er lebt.
Diese Kultur ist, wie wir wissen, durch viele Dinge beeinflusst und geprägt. Durch Moden oder Meinungen, ebenso wie durch die Interpretation seiner Geschichte oder dem Wert der Tagespresse. Alles das, was die heutige moderne Gemeinschaft als wichtig erachtet oder ablehnt. Subjektiv.
All das beeinflusst unser Kunstverständnis. Und der Künstler, welchem in einem kraftvollen „Moment der inneren Offenbarung“ dieses oder jenes Kunstwerk zu fiel? Er hält kluge Reden über seine „Entdeckungen“ und hofft so womöglich nicht nur durch seine Kunst zu gefallen, über die er eigentlich nur genauso viel sagen kann, wie ein Ligor über die Modulation eines Positronikreaktors. Nämlich nichts! Also spekuliert er herum. Er wird niemals wissen, ob sein Publikum „versteht“... Vielleicht wartet er aber auch zuerst auf eine günstige Kritik in der Allgemeinheit, um in direkter Folge seine besondere künstlerische Position hervorzuheben. Daraufhin fällt es ihm dann leichter, völlig fantastische Geschichten über sein geniales „Werk“ preiszugeben. Und diese Geschichten,...“ Der Ältere lächelte nun verschmitzt. Im Kopf des Jüngeren entstand ein Bild einer unendlichen langen Straße. Dicht nebeneinander aufgereiht standen kleine Menschen. Alle hielten etwas in der Hand und versuchten durch Gebärden oder Rufe auf sich aufmerksam zu machen. Doch es waren einfach zu viele und so verschwammen sie zu kaum mehr unterscheidbaren Punkten links und rechts neben der Straße.
„... können größtenteils nur noch von Menschen mit skurriler und überzogener Einbildungskraft nachvollzogen werden, wenn überhaupt, lebt diese Kunst nur noch von seinen Beifallklatschern. Aber wo ist der wirkliche Wert einer solchen Kunst, die gerade noch gut genug scheint die langweiligen Augenblicke des Lebens totzuschlagen?“
Obwohl ihn das Gerede des älteren Mannes provozierte, lauschte der Jüngere gebannt und fasziniert.

Die Halle begann sich nun in regelmäßigen Abständen zu verdunkeln, doch dieses mal passte auch der HT-M-Raum sich an. Er verwandelte das Licht in Vibrationen, die den Raum durchzogen und ihn zu „verkneten“ schienen. Wie ein riesiges aufgeregtes Herz pulsierten die HoloTid-Matrixen und kündeten damit das große Ereignis an, das nun unmittelbar bevorstand.
Der Panorama-Komplex war auch schon bereit. Über der Bodenmatrix hatte sich eine riesige goldene Kugel geformt. Unzählige Sonden leiteten von verschiedenen Standorten und Zeitscheiben ihre Sensordaten in die Matrix. Daraus formte sich langsam das größte Vierdimensionale HoloVid, das je von Menschen erschaffen wurde. Die HT-Ms, die überall in der großen Halle verteilt waren, vibrierten langsam im Rhythmus des Lichtes.
Die Vibrationen erfassten die Räume Etage für Etage. Die Wirklichkeit der Halle, das Raumschiff oder das bevorstehende Ereignis bekamen dadurch etwas seltsam Unwirkliches.

Die Halle schien physikalisch von den Schwingungen zu vibrieren.
Es war so, als würde der Raum um den Panorama-Komplex plötzlich unscharf werden. So als würden Teile eines Bildes vor den Augen verschwimmen, weil man sie nicht mehr klar erfassen kann. Es war, als würde das pulsierende Licht durch die Lichtmatrix hindurch den Körper der Anwesenden berühren und bewegen.
Die riesige Kugel des Panorama-Komplexes, das Zentrum der Lichtstöße, bekam dadurch einen einzigartigen Ausdruck von „echter“ Wirklichkeit, da es das einzige war, was man völlig klar im Blick halten konnte. Und natürlich auch die Erde, die nun vollständig das Blickfeld auf den künstlichen Himmel beherrschte.
HT-Ms wurden in den verschiedenen Etagen platziert. Logenplätze gesichert und gute Aussichten ausgespäht. Auch andere kleinere Raumschiffe waren unterwegs. Einige mutige Raumfahrer hatten ihr Schiff schon über bestimmten risikoreicheren Punkten stationiert. Menschen in Raumanzügen drängten sich auf der Aussichtsplattform. Nur wenige hatten dem Schauspiel den Rücken zugekehrt. Es gab Vids von einigen wenigen Schiffen, die schon den Marsgürtel passiert hatten. Es waren Anderdenkende, aber auch sie hatten mit abgestimmt und sich entschieden...
Und während das Projekt nun seiner Vollendung entgegen ging, integrierten sich die restlichen Sonden in die SpaceVid-Kanäle. Das gesamte Gebiet der Vereinigten Sternenflotte würde zeitgleich an dem großen Ereignis im HoloVid teilhaben können.
Die Zeit war nah. Die Spannung in der Halle war körperlich spürbar.

Die beiden Gesprächspartner wandten sich wieder ihrem Gespräch zu.
Ihre Körper flimmerten und veränderten sich mit den immer schneller auftreffenden Lichtimpulsen.
„“Echte“ Kunst sollte also, ihrer Meinung nach, etwas ganz anderes darstellen?“ sagte der Jüngere und beobachtete,wie der sich verändernde Raum übergangslos in die Gestalt des Älteren überging.
„Kunst sollte keinem Selbstzweck dienen.“ sagte der Ältere. „Etwas, das scheinbar nur in einem bestimmten Augenblick entstehen konnte und dessen Wert auf völlig spekulativen und völlig fantastischen Vermutungen beruht, scheint mir mit wahrer Kunst nicht viel gemein zu haben. Meiner Auffassung nach sollte Kunst dem Verständnis dienen. Sie mag Informationen enthalten oder Stimmungen darstellen. Sie mag ein Mahnmal sein oder nicht. Aber sie sollte nicht das Ergebnis von Zufall sein oder das Resultat irgendwelcher fantastischer Interpretationen. Oder nur närrisch „schön“. Wenn dies Kunst sein soll,“ Der Ältere schaute abfällig auf den Panorama-Komplex. „vermute ich, ist dies hier unser Beitrag zur Schöpfung des Universums?“
Die letzten Worte stieß er mit einer Spur bitteren Spottes hervor. Der Jüngere fragte sich, wo in der Vorstellung des anderen wohl echte Inspiration Platz fand. Der Augenblick, wenn aus dem Urquell der Eingebungen Momente entstehen, die den Künstler zu schier wahnsinnigen Werken antreiben.

Und plötzlich war es still. Es war soweit. Das Licht, das von der goldenen Kugel ausgestrahlt wurde, wurde von den HT-Ms und den Wänden der Halle einfach absorbiert. Obwohl es eigentlich sehr hell war, war es auch gleichzeitig sehr dunkel. Es hatte etwas ausgesprochen Irreales.
„Kunst," flüsterte der Jüngere, „ist ein Moment, - so wie die Vereinigung von Mann und Frau in einem Augenblick erlebt wird. Kunst ist etwas einmaliges und vielleicht unwiederbringliches. Kunst ist schwer nachvollziehbar und daher frei von Grenzen und Beschränkungen.“ Er lächelte den Älteren an, der ihn aber nur mit einem seltsam betroffenen Blick musterte. Schlagartig wurde dem Jüngeren klar, dass der Ältere ihn durchschaut hatte. Das waren nicht seine Gedanken oder Worte gewesen. Dies war das, was die gängige Meinung forderte. Er hörte sich sagen: „Kunst ist etwas, das von dem Moment seiner Geburt ebenso abhängig war, wie auch letztlich etwas, das nur im Moment wachsen konnte.“
Doch es waren nicht seine Worte. Es waren die Worte eines Fremden. Was, wenn der Ältere Recht hatte? Wenn Kunst etwas war, das zwar im Moment entstand, aber nicht von dem Moment abhängig war?
Dann... - ...hatten sie sich alle geirrt!

Doch zu spät für solche Gedanken. Überall waren die Gespräche verstummt und eine unheimlich Stille senkte sich über das Geschehen. Die letzten Zuschauer hatten ihre Plätze eingenommen.
Nichts sollte den atemberaubenden Anblick stören. In über 9000 Welten warteten Milliarden von Menschen zusammen auf den großen Augenblick.

Und dann begann es...
Die goldene Kugel glühte auf, als die 4D-Sonden anfingen den nun begonnenen Augenblick in winzigste Zeitscheiben zu zerteilen.
Und dann geschah es:
In einem gewaltige Farbenrausch platzte die goldene Kugel auseinander.
Im selben Augenblick explodierte unser Mutterkörper in unzählige Richtungen.
Eine gewaltige Woge aus Abermillionen von Farben und Eindrücken ergoss sich in die Matrixen und durch das Raumschiff und durch die Zuschauer hindurch.

In einem kurzen Augenblick voller Schönheit zerplatzte die Erde, wie eine riesige Seifenblase, und erhellte das Universum ein allerletztes Mal.

Ein großer, ein unwiederbringlicher Moment. Absolute Kunst. Herausgeschnitten aus dem Augenblick und für immer konserviert.

Ein letztes Mal erschütterten die Wellen der toten Erde das Raumschiff.
Nun war der Mensch frei! Jubel erfüllte die Halle, die sich jetzt langsam wieder erhellte.

Ich starrte auf das VidCom. Die Zuleitungen waren wieder privatisiert worden. Ich dachte an das Gespräch. Und irgendwie ging mir die Rede des alten Mannes nicht aus dem Sinn.
Und wenn wir doch einen Fehler gemacht hatten?
Unwiederbringlich. Kunst ist doch einmalig und unwiederbringlich...


 

 

 

Auf zu neuen Welten

Dr. Willkür überraschte die wissenschaftliche Fachwelt mit der Entdeckung, dass binäre Werte (Plus und Minus, Positiv und Negativ, Aktiv und Passiv, Gut und Böse, etc.) sich nicht zwangsläufig aufheben müssen.
Sie können zusammen existieren: In einem Spiegel. (!)


Die wissenschaftliche Betrachtung
 Die Wechselwirkung wird aufgehoben.
 Zwei Körper können den Platz von einem einnehmen.
 Jeder Raum kann nur so groß sein, wie sein Spiegelbild.
 Jede Energiequelle kann doppelt ausgenutzt werden.

Doch war noch Science Fiction.


Erster offizieller Versuch
Zwei Versuchspersonen traten, unter Anleitung von Dr. Willkür, durch einen vorher speziell imprägnierten Spiegel. Der Spiegel wird durch eine wissenschaftliche Kommission genauestens untersucht. Zehn Minuten später traten die beiden Versuchspersonen unversehrt und wohlbehalten wieder aus dem Spiegel hinaus.

Aufsehen erregende Erkenntnisse folgten
 Expansion ist nicht mehr unmöglich.
 Psychologische Erkenntnisse.
 Transportschwierigkeiten können auf ein Minimum reduziert  werden.
 Energiegewinnung und -ersparnis.
 Rohstoffgewinnung und -ersparnis.
 Die Welt ist doppelt so groß.
 REICHTUM.

Doch das war noch Science Fiction.


Zweiter offizieller Versuch
Dreizehn Versuchspersonen begaben sich unter der Anleitung des Wissenschaftsrates in einen imprägnierten Spiegel. Der Spiegel wurde in ein Flugzeug verladen. Am Zielort traten alle wohlbehalten hinaus und bestätigten
erste Vermutungen:
 Gewicht.
 Masse.
 Trägheit.
 Richtungen.
 Zeit.
 ROH$TOFFE!


Dr. Willkür zum Nobel-Preis nominiert.
Die Fachwelt applaudiert.
Große ausländische Regierungen investieren in das neue Projekt.


Dritter und letzter offizieller Versuch
Ein kleine Transportmaschine startete, um eine fast Zweihundertköpfige Gruppe von Verfechtern der neuen Wissenschaft vor die Vereinten Nationen zu fliegen. Darunter auch Wissenschaftler aus den USA und der BRD. Während des Transports zerbricht der Spiegel. Zweihundert Menschen verschollen! Versuche, sie mit ähnlich konstruierten Spiegel wiederzufinden, scheiterten.

Aufsehen erregende Erkenntnisse folgten

 Sparen auf unsere Kosten!
 Diebstahlsquoten werden unkontrollierbar!
 Krieg spielen, ohne das man es merkt?
 Warum neue Techniken (Leben wir denn nicht bequem genug)?
 Big Brother is near!
 Stell dir vor, die im Spiegel leben auch!
 Wer weiß was man sich da in die Wohnung schleppt?
 Warum wissen wie, wenn man nicht weiß wofür?
 Wer ist eigentlich dafür verantwortlich?

Der Staat wich dem Druck aus und stellte das Projekt unter die Schirmherrschaft des Militärs.



Epilog
Eines Morgens fand die Wirtschafterin den nominierten Nobel-Preisträger.
Er hatte sich im Spiegel über dem Waschbecken erhängt ...

 

 

 

 

 

 

In der U-Bahn (Für Sigmund F.)

Schlagartig war es still geworden in dem U-Bahnabteil.
Alle Augen waren auf den Mann im blauen Trenchcoat geheftet,
der mit verlorenem Blick aus dem Fenster starrte.

In der rechten Hand hielt er eine Plastiktüte, in der sich etwas Rundes, Festes befand.
Man mochte an einen nicht sehr großen Ball denken, wenn nicht,
aus einem winzigen Loch der Tüte, diese dunkelrote Flüssigkeit geräuschvoll auf den Boden des Abteils tropfen würde.

Unendlich leise höhnte es von den Lippen des Fremden: „Mutter, oh Mutter...“

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Party auf dem Land


Es war ein uraltes Haus, einsam gelegen, inmitten gewaltiger Felder und Waldstriche, die es umsäumten. Wir hatten es nicht nur wegen seiner schönen geographischen Lage ausgewählt, sondern da sich, in der dortigen Umgebung, hartnäckig das Gerücht hielt, es würde dort spuken. Unter dem Dach befände sich eine Kammer, die der Auslöser solcher Spukgeschichten sei, und das war der richtige Aufhänger für unsere geplante Landparty.
So machten wir uns im Morgengrauen schon auf den Weg; eine heitere und ausgelassene Gesellschaft, die das Abenteuer suchte und die Gefahr verlachte.

Wie erwartet erreichten wir unser Ziel vor der Abenddämmerung, was uns noch genug Zeit ließ, das Haus auf seine Geheimnisse hin zu untersuchen und für das geplante Fest vorzubereiten. Allein die Untersuchung der Dachkammer hoben wir uns für später auf.
Das Haus war wirklich uralt. Es musste so um die Mitte des 18. Jahrhunderts gebaut worden sein und hatte wohl einst als Herrenhaus gedient. Nur im Flüsterton sprachen die ortsansässigen Dorfbewohner über diesen Ort. Einige bekreuzigten sich sogar und wandten sich schnell von uns ab, als wir im nahen Dorf versuchten einige dortige Spezialitäten für das Fest zu kaufen. Man konnte schnell den Eindruck gewinnen, dass sie mit unserem Aufenthalt in dem Haus überhaupt nicht einverstanden waren. Aber wir sagten uns, es sei entweder der dörfliche Aberglaube oder es bezog sich auf den Zustand des alten Hauses und nicht auf einen dort tatsächlich vorhandenen Spuk.

Die Vorbereitungen kamen gut voran. Bald schmückten Girlanden die düsteren Räume und taktisch postierte Kerzen erleuchteten das Haus. Eine kleine Musikanlage trällerte die neuesten Songs und die Stimmung konnte besser nicht sein. Die heitere Atmosphäre schien sich sogar auf das alte Haus zu übertragen, das nun nicht mehr einsam und düster vor sich hinträumte. Die Vorbereitungen waren auch bald abgeschlossen.
Eigentlich schien alles bestens zu sein, doch – und irgendwie spürten wir es alle, auch wenn keiner ein Wort darüber verlor, das in der ganzen Ausgelassenheit etwas, wie eine stumme beständige Drohung, mit schwang. Ein Gefühl, das uns beständig an das Verhalten und das Geschwätz der Dorfbewohner erinnerte, und einen unbeschreiblichen Nervenkitzel verursachte.


Die Party war nun richtig in Gang gekommen und im ganzen Haus erklang das fröhliche Gelächter der Gäste. Da kaum Möbel aufzutreiben waren, außer zwei riesige Eichentische und in den Wänden eingelassene Betten, hatten wir kurzerhand alles an den Wänden aufgebaut, um Platz zum Tanzen und Schweifen zu machen.

Als die Stimmung einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, beschlossen wir gemeinsam den Dachboden zu erklimmen, um den Gegenstand der dörflichen Spukgeschichten (und des allgemeinen Interesses) zu begutachten.
Die alten Dielen knarrten, natürlich, als wir hinaufstiegen. Und es war stockduster. Und wir erzählten uns gruselige Geschichten, aber vielleicht nur, um das beklemmende Gefühl des Ungewissen, das in uns allen tobte, beiseite zureden. Es war alles wirklich sehr aufregend.

In der Weite des Dachbodens, der im Gegensatz zum restlichen Gemäuer noch kaum Zerfallserscheinungen zeigte, lag die besagte Kammer. Und dann sahen wir etwas wirklich seltsames. Die Eingangstür zur Kammer war nicht nur vernagelt worden, sondern mit Zeichen bemalt worden, die einer von uns als auf-dem-Kopf-gestelltes Pentagramm oder Drudenfuß erkannte. Aber wieso es auf den Kopf gestellt worden war, wusste keiner zu erklären. Solche Zeichen, vermuteten einige, wurden von Zauberern benutzt um Geister damit zu beschwören oder im Gegenteil, um Geister damit aufzuhalten. Es war schon eine komische Situation, denn solche Szenen kannte man bestenfalls aus irgendwelchen Gruselfilmen. Aber wir ließen uns davon nicht einschüchtern.


Wir entfernten die Bretter und Siegel und öffneten vorsichtig die Tür. Das folgende war so erschreckend, das es schon komisch, ja lächerlich wirkte. In dem Moment, wo wir die Tür öffneten, verstummte schlagartig die Musikanlage im Erdgeschoss, und in die folgende betretende Stille begann ein Käuzchen hineinzukreischen. Eine perfekte Kulisse für jede Geistergeschichte.

Natürlich war es ein Zufall und sicher waren die Batterien der Anlage leer, denn wir waren alle auf dem Dachboden. Niemand war unten geblieben, der die Anlage hätte ausschalten können. Nur ein dummer Zufall, der so perfekt platziert war, das er uns einen ersten ordentlichen Schreck einjagte.
Der aber auch schnell wieder vergessen war. Nacheinander betraten wir neugierig das Zimmer. Wir lachten, schwatzten und Gott vergib uns, wir wetteten...

Die Kammer war klein. In einer Nische ein Bettkasten, davor ein kleiner Schrank. Ein Tisch und ein Stuhl. Auf dem Tisch eine halb herunter gebrannte Kerze und ein abgewetzter Griffel. Es war unmöglich zu sagen, wie lange die Kammer nicht mehr benutzt worden war. Alles war mit einer grauen Staubschicht überzogen. Es musste sehr lange her sein.
Ein, in die Schrägung der Wand, eingelassenes Fenster war ebenfalls mit Brettern vernagelt worden, Auch hier fand sich das verwirrende Zeichen.
Katherine und Robert wetteten, die Nacht gemeinsam in der Spuk-Kammer zu verbringen, „allen Schauermärchen zum Trotz!“. Natürlich war es uns ziemlich unheimlich zumute, aber da wir uns alle im Haus verteilen würden und als feststand, dass die beiden eigentlich nur einen Ort zum Alleinsein suchten, brachten wir ihnen noch eine weitere Kerze und eine Flasche Brandy, die ihnen mit dem Versprechen gegeben wurde, sie am Morgen zu erlösen.
Die Musikanlage funktionierte auch wieder normal und so ging die Party ungetrübt weiter und schon bald waren die beiden fast völlig vergessen.


Um Mitternacht kamen wir auf die Idee auf den Dachboden zu schleichen, um den beiden einen ordentlichen Streich zu spielen. Unnötig nur den Versuch zu beschreiben, da ein unmenschliches Heulen, welches unzweifelhaft aus jener verdammten Kammer kam, unser Vorhaben im Keim erstickte. Die ersten Beherzten rannten sofort nach oben. Wir waren schlagartig ausgenüchtert und folgten nach und nach.

Es war das Grauenhafteste, was ich jemals gesehen habe. Der Boden der Kammer war eine einzige riesige Blutlache. Blutspritzer klebten an den Wänden und an der Decke.
Robert kniete in der Mitte der Kammer, nackt, überall voller Blut. Aus seinem Rücken ragten Teile des alten Stuhls heraus. Seine Arme hingen, seltsam verdreht vor ihm auf dem Boden, Seine Nase war abgerissen worden und auch Teile seiner Füße fehlten.
Seine toten Augen starrten durch das nun weit offenstehende Fenster in die Nacht hinaus und aus seinem Mund, der zu einem dümmlichen Grinsen verzogen war, tropfte schwarzer Schleim auf den blutbedeckten Boden. Von den Brettern, die vor das Fester genagelt worden waren, fehlte, wie auch von dem Schrank, jede Spur. Die Reste des Stuhls lagen zertrümmert neben dem Tisch.
Katherine, nackt und voller Blut, hockte zusammengekauert auf den Resten des Bettkastens. Ich glaube, sie nahm uns anfangs gar nicht wahr. Sie saugte gierig an etwas rotem, schleimigen, das sie dabei vorsichtig und sanft in ihren blutverschmierten Händen schaukelte. Plötzlich schrie sie auf und schleuderte uns das Ding entgegen. Es klatschte auf den Boden. Es war ein menschliches Herz und es bewegte sich, es pochte immer noch! Das Herz lebte!

Katherine begann schrill zu lachen. Sie starrte uns an, doch da waren gar keine Augen mehr, die starren konnten. Blutige Augenhöhlen, wie übergroße dunkle Pupillen. Sie erbrach Blut, das über ihre nackten Brüste herunterleckte und sie lachte dabei. Das Lachen hallte in meinem Kopf, wie das Meckern Tausender Ziegen wider. Dann streckte sie ihre blutigen Finger nach uns aus.

Wir rannten. Wir rannten so schnell wir nur konnten, Wir rannten aus dem verfluchten Haus. Wir rannten in die schützende Nacht hinaus, fort, nur fort.
Das Grauen hatte uns gepackt.

 

 

 

 

 

 

... bei denen man glaubt geborgen zu sein

 

Es war Nacht.
Zusammengekauert hockte er, in seine feuchte Decke gehüllt, am Feuer.
In der Höhle, in die er sich, vor den tobenden Gewalten der Natur, geflüchtet hatte, war es unnatürlich still. An den Höhlenwänden refektierten schattige Gestalten, geboren aus dem tanzenden Spiel der Flammen.

Er zuckte merklich zusammen, als die Sturmböen sich mit erneuter Kraft entfalteten und gegen die Höhle warfen. Es war an Mitternacht heran und noch immer war kein Ende des Unwetters abzusehen. Seine glühenden Arme waren wütend zum Firnament ausgestreckt und mit jedem seiner Schritte donnerten die Elemente über das Land hinweg.
Die Höhle bot Schutz und das Feuer Wärme und Trockenheit.
Der Mann saß, mit glasigen, übermüdeten Augen, zitternden Händen, ängstlich und klein, scheinbar wartend in der Höhle und starrte in das Feuer, in dem sich der ganze Tag, wie eine Geschichte ausbreitete und widerspiegelte. Verzerrt von feurigen Schattengestalten.

Es war der 30. April des Jahres 1924. Am frühen Morgen dieses Tages war er aufgebrochen, seinen wohlverdienten Urlaub im berühmt, berüchtigten Spessart anzutreten. Sein Ziel war eine hoch gelegene Holzhütte, am Fuß des Geyersberges, wo er hoffte seine nicht alltäglichen Studien ungestört betreiben zu können. In der Ruhe und Abgeschiedenheit, wo ihn bisweilen jener ungehemmte Drang der Natur, in besonderen Augenblicken, überfiel. Wo die Magie schlicht gegenwärtig war.
Dann ließ er sich mit einem Flussboot den Main runter bis nach Würzburg bringen. Nachdem er sich mit Nahrung eingedeckt hatte, machte er sich zu Fuß auf den Weg. Er war guter Dinge und er war allein. Fernab allem menschlichen Drängens, jeglicher zivilisierter Stätten voll rastlosen Betriebs, genoss er das Singen der Vögel, auf deren Schnäbeln sich glitzernde Strahlenfinger brachen, unter sich wie selbstgefällig wiegenden Bäumen. Von überall brummte und summte es fröhlich von Bienen und Hummeln und von anderen Bewohnern der Lüfte, von deren Existenz er bis heute nicht einmal etwas geahnt hätte. Die Sonne schien und der blaue Himmel leuchtete. Ein angenehmer und kühlender Wind machte seine Wanderschaft zu einer Wohltat.
So verging Stunde um Stunde.

Und dann passierte etwas, mit dem wohl keiner gerechnet hatte, denn sonst wäre er bestimmt gewarnt worden, bevor aus Würzburg aufbrach. Der Himmel schien aufzubrechen. Innerhalb von nur wenigen Augenblicken war das Bild der Idylle zerstört. Sollte der Himmel weinen können über vergossenes Unrecht, so zerriss er sich bei seinem eigenen Leib.
Mit höllischer Wut brach der Sturm los.
Die stärksten Stämme wichen dem Druck dieser dämonischen Gewalten, die aus dem Nichts um sie herum hervor brachen. Das Gras presste sich furchtsam zur nassen Erde. Weidenbäume klammerten sich aneinander. In ihrem schwingenden Geäst warfen Sturm und Regen schattige Gesichte und die Buchen schwangen im Takt dieser neuen Welt. Nur die alten Eichen knarrten wie unwillig dem Unwetter entgegen.

Kurze Zeit später war der Boden schon so aufgeschwemmt, das an ein Vorwärtskommen kaum mehr zu denken war. Erst verlor er den Weg und dann seine Wanderkarte. Und inmitten des Waldes und des Unwetters gab es auch keine Orientierungsmöglichkeiten.
Allein, auf seine Intuition und ohnehin schon übermüdeten Beine gestellt, irrte er, begleitet vom unnatürlichen Heulen des Sturms, durch die nun pechschwarze Nacht. Regenschauer peitschten mit unglaublicher Gewalt gegen seinen geschwächten Körper.
Alle seine Gedanken richteten sich auf die irrwitzige Hoffnung, hier in der Wildnis, eine andere menschliche Seele oder eine Hütte zu finden. Irgendwie verband er mit dieser trügerischen Idee alle Hoffnung auf Schutz und Sicherheit. Alles um ihn herum war in einen schwarzen nassen Mantel gehüllt. Und nicht einmal der Mond zeigte sich. Er, der den einsamen Wanderern des Nachts den Weg heimleuchtet.

Finsternis überall. Seine Kleider klebten eisig an seinem Körper. Wie durch zähen Morast schleppte er sich durch die Finsternis dahin.
Und mit einmal war das Gewitter da! Blitze durchschnitten, gleißenden Schwertern gleich die pechschwarze Dunkelheit. Unsichtbare Riesen stampften über das Land.
Schon im ersten einfallenden Blitz gewahrte er eine riesige Gestalt – im nächsten viele – über ihn gebeugt. Ihre gewaltigen Keulen schon zum Schlag erhoben, noch unsicher ihn in der Dunkelheit treffen zu können. Schattengespinste. Doch mit eisigen Fingern griff die Angst nach ihm.

Der Tod schien ihn nun auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Er zitterte vor Angst und Kälte am ganzen Körper. Er versuchte mit Vernunft seinen angegriffenen Verstand zur Ruhe zu zwingen, denn er wusste doch, dass es nur das Licht der Blitze und die Schattenformen des Waldes, der Bäume, waren, die diese unheimlichen Gebilde in seinem verängstigtem Geist erschufen.
Unsicher und ermutigt tastete er sich weiter vorwärts.
Doch schon bald brach die Angst mit erneuter Gewalt über ihn her.

Er hatte auch schon lange jegliche zeitliche Orientierung verloren, als er sich seinen Weg durch das Gewirr der Zweige brach. Um ihn tobte der unermüdliche Sturm und der Regen peitschte unablässig durch die Dunkelheit. Jeder Blitz ließ den Himmel in Flammen stehen. Der fast augenblicklich folgende Donner betäubte seine Ohren. Jeder Schritt wurde zu einem Mühsal ohnegleichen. Er kämpfte gegen die Natur und gegen seinen mehr und mehr schwächelnden Körper an.

Er schob sich gerade an dem glitschigen Stumpf einer alten Eiche vorbei, als er spürte, wie etwas nach seinen Beinen griff. Er stolperte und fiel.
Erschreckt landete er mit dem Gesicht nach unten im matschigen Gras. Er versuchte wieder auf die Beine zu kommen, doch die Sturmböen drückten ihn immer wieder zurück. Plötzlich spürte er etwas nach seiner Schulter fassen und ihn herumziehen und umdrehen. Ein erneuter Blitz durchschnitt die Dunkelheit und aus dem Augenwinkeln sah er einen Rumpf, und daneben das abgetrennte Haupt mit weit aufgerissenen Augen und Pupillen, die ihm bis in die tiefsten Abgründe seiner Seele hinein starrten.
Denn das Gesicht, dass ihm entgegen starrte, war sein eigenes!
Und dann war es wieder dunkel. Das gewaltige Donnern, das Lärmen des Sturmes und das Peitschen der Regenmassen, seine Angst und das Schreckliche vermischten sich zu einer krankhaften, Grauen erregenden, morbiden Wirklichkeit. Er zog sich hoch und versuchte taumelnd weiter vorwärts zu kommen. Nur fort von diesen Gebilden. Doch irgendetwas begann an seinem Fuß zu zerren.

Logik und Vernunft befanden sich seit geraumer Zeit schon auf jenem engen Pfad, wo der Weg, die Grenze zur unsichtbaren Welt, längst nicht mehr mit Bildern scheinbarer Gewissheit und Ordnung oder Sicherheit verhängt war. Er erlebte nacktes Entsetzen, als er versuchte sich aus dieser unmöglichen Umklammerung wieder zu befreien. Er riss und zerrte und sein Geist brüllte nach Hilfe und Rettung.
Und dann musste er aufgeben, er brach einfach zusammen. Mehrere Blitze erhellten den Himmel. Er wendete den Kopf, um nach diesem Wesen, denn das jemand hinter ihm war, davon war er restlos überzeugt, zu spähen. Doch da war nichts. Sein Fuß war in einem Erdloch verfangen und um ihn herum waren nur Büsche und dichtes Zweiggewirr. Vorsichtig befreite er seinen eingeklemmten Fuß, der sehr stark schmerzte. Sein Herz klopfte bis zum Hals.
Spukgebilde, entstanden aus dem Unwetter, hatten ihn genarrt, hatten sein Innerstes einfach nach Außen gekehrt. Er sammelte sich und die kümmerlichen Reste seiner Logik, so gut es ging, und wollte gerade den Weg fortsetzen, als ein weiterer Blitz durch das Dunkel gleißte und für einen kurzen Augenblick den Ort um ihn in unheiligem Feuer erstrahlen ließ.
Und dann war es um die kümmerlichen Reste seines noch hauchdünnen Verstandes geschehen; vor ihm, keine Handbreite von seinem Gesicht entfernt, starrte er in die toten Augen eines abgerissenen menschlichen Kopfes.
Der Regen wurde plötzlich warm und matschig und alles roch nach Fleisch.

Er schrie und er lachte und er merkte es nicht mehr. Er brüllte seinen Horror in die tobenden Gewalten raus. Dann rannte er, hastete, stolperte, taumelte und flüchtete vor etwas in ihm, das ihm zuraunte dies sei das jüngste Gericht und die Verdammnis der Welten. Er kreischte, brüllte und lachte, bis ihm der Regen schon längst die Luft genommen hatte.
Und dann die Höhle, in die er hineinstolperte. Hier brach er restlos zusammen.

Er erwachte in erneuter Dunkelheit. Das Toben und Tosen war leiser geworden, aber setzte sich mit beispielloser Heftigkeit fort. Er tastete und fand trockenes Gezweig, das er mit den feuchten Schwefelhölzern, die er seinem klammen Reisesack entnahm, zu einem kleinen Feuer entzündete.
Zu seinem Glück fand sich sehr viel getrocknetes Holz in der engen Höhle. Er errichtete eine provisorische Wäscheleine, für seine Kleider. Er setzte sich an das Feuer, das langsam begann ihm Wärme und Sicherheit wiederzugeben. Und dann brach es aus ihm heraus. Er lachte. Doch dieses Mal war es ein Befreiung. Die Lächerlichkeit über das Erlebte, die Schattenspiele, die den Augen so manchen Streich gespielt hatten, die Müdigkeit des geschwächten Körpers, das Unwetter und die Orientierungslosigkeit. Alles zusammen hatte ihm jeden Selbstwert geraubt. Er lachte und fühlte die Eigenständigkeit und den Mut in sich zurückkommen. Er hatte all dies zulange verdrängt. Er lachte und das Licht seiner Tränen verwischte das Licht seiner Augen. Er lachte und das Echo der Höhle antwortete mit zustimmendem Gelächter. Er lachte die Angst heraus.

Das war sein Tag gewesen und die Schattenbilder des Feuers bildeten Schattenspiele an den Höhlenwänden. Der Heiterkeitsanfall war längst vorbei. Er war allein und das Unwetter tobte ununterbrochen um die Höhle. Er dachte an die Albernheit solcher Erlebnisse, doch schwang in jede Ausgelassenheit nun auch eine stumme Drohung mit hinein. Er wischte sich über die müden Augen, als ein plötzlich auftauchendes fremdartiges und nahes Geräusch ihn zusammenzucken und aufhorchen ließ. Angespannt begann er die Höhle auszuspähen und sein Blick wanderte zu den ferneren Wandschatten, doch er konnte die Ursache nicht ermitteln.
Wie klein und hilflos er sich mit einmal fremden Mächten ausgeliefert fühlte, deren bloßes Vorhandensein die Grenzen seines strapazierten Verstandes scheinbar mühelos zu vernichten in der Lage waren. Aber natürlich war das alles nur Einbildung gewesen.
Ein im fast erloschenen Feuer zersprungener Holzscheit hatte ihn genarrt!

Und doch flüsterte etwas in ihm unaufhörlich von fremden Welten, von Spalten und Abgründen, von Orten, wo die Grenzen und die Gesetze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren sich überschnitten und auflösten und Wesen Eintritt verschafften, an Plätze, die sicher nicht ihrer Natur entsprachen. Bilder von namenlosen Sphären, getaucht in grausige Fremdartigkeit.

Sein Denken suchte verzweifelt nach einem rettenden Strohhalm, an den sich der angegriffene Verstand klammern konnte, um der Vernunft wieder Herr zu werden. Sein Gefühl diesen Mächten hilflos ausgeliefert zu sein, seine Hilflosigkeit wurden so übermächtig, dass er, erschreckt von diesem Ansturm, vor sich selbst erschrak. Er sammelte trockene Zweige, die er in die Glut warf. Es prasselte und knackte erneut tanzten Schattenbilder durch den Raum. Er zog seine inzwischen getrockneten Klamotten an und ging vorsichtig zum Eingang der Höhle. Das Toben und Brüllen des Unwetters war schwächer geworden. Nur noch vereinzelte Blitze und ferner Donner waren zu vernehmen. Und dann war es still. Kein Regen, kein Sturm und kein Gewitter. Nur noch Stille.

Von einer Sekunde auf die andere verschwanden die dunklen Vorhänge der Wolken und die ersten wiederkehrenden Sterne strahlten ihr Licht auf eine schier undurchdringliche Waldlandschaft hinunter. Die Stille selber beanspruchte nun die Szenerie. Alles schien den Atem anzuhalten, so als würde das Unwetter ohne Vorwarnung zurückkehren und mit noch größerer Gewalt sein angefangenes Werk der Zerstörung vollenden. Doch nichts geschah.

Das Knistern des Feuers und sein unsicherer, keuchend ausgestoßener Atem „malten“ in die Stille ein neues bedrückend bedrohliches Bild hinein. Er starrte in die Dunkelheit der Nacht und dann erstarb das Feuer und versenkte die Höhle in Dunkelheit. Jetzt war da nur noch sein Atem, der sich so gar nicht in die Stille einfügte. Unwillkürlich hielt er die Luft an. Es war einen Moment unglaublich schön. Alles schien von ihm abzufallen. Die Stille schien sich friedlich über die ganze Welt auszubreiten. Es hatte etwas Endgültiges, etwas Absolutes, das sich mit dem Raum der Stille vereinigte. Nichts regte sich. Alles schien in der Zeit erstarrt zu sein und gab damit einer neuen Ordnung Platz.
Seine zitternde Hand tastete zu seiner Brust. Er hielt noch immer den Atem an, aber sein Herz klopfte. Es klopfte lauter und lauter und versprach dabei schreckliches Leben und Abhängigkeiten und Erfordernisse und den nichts sagenden Weg der Menschlichkeit und dessen leere und hohle Anforderungen an die Wirklichkeit des normalen Geschehens.
Lauter und lauter dröhnte ihm das sündige vergebliche und störende Klopfen des eigenen Herzens im Schädel. Und wieder waren da die Stimmen und diesmal sangen sie vom Lied des Todes und flüsterten von dem Moment der Aufgabe und von der Furcht so weiterleben zu müssen und von dem unwillkommenen Pochen des Herzens in dieser absoluten Friedlichkeit. Er sah seine Hände, wie die Hände einer fremden Person, zu seinem Reisesack greifen, darin herum wühlen, bis sie sich zufrieden um den Griff seines Reisemessers schlossen. Ein kurzer Stoß, ein rechter Schnitt und er würde Hineintauchen in die unendliche Stille und die ewige Nacht.

Hastig atmete er tief ein. Das waren nicht seine Gedanken. Etwas Fremdes bemächtigte sich seiner. Eine Macht versuchte Besitz über ihn zu bekommen. Oder er war so erschöpft, dass die Flügel des Wahnsinns das Licht seines Verstandes verdunkelten.
Es schien ihm abgrundtief teuflisch und jedem Grundsatz von Schöpfung und Leben zu widersprechen. Etwas drückte gegen seinen Kehlkopf und schwang ihn zu schlucken. Er musste diesen Ort verlassen. Er musste diesem fremden Einfluss, denn er war sicher jemand oder etwas suchte ihn zu manipulieren und trieb sein Spiel mit ihm, entkommen. Dieser Ort, die Höhle und der Wald, schien von einer Niedertracht gezeichnet, die nicht von Gott oder einem Menschen kam. Hier waren Kräfte am Werk, die das normale Vorstellungsvermögen bei weitem überschritten.
Er tastete sich in die dunkle Höhle zurück, sammelte seine Sachen und schlug, wie er hoffte, den Weg zurück nach Würzburg ein. Er lächelte. Es war doch gut, dass es Dinge gab an die es zu glauben lohnte, - Dinge bei denen man glaubte geborgen zu sein...
Er musste sich beeilen! Er war nicht mehr Herr über seine Gedanken.

Ärgerlich auf sich selber und auf den unaufhörlichen Strom seiner rasenden Gedankenbilder machte er sich auf den Rückweg. Diese Gedanken waren stärker als er und gaukelten ihm eine Unstetigkeit und Unzufriedenheit vor, die ihn nur zu noch mehr Eile antrieb. Diese anderen Gedanken begannen ihn aufzusaugen und bei lebendigem Leib zu verspeisen. Sie wurden größer und gewaltiger, und unüberwindbarer in ihrer diabolischen Existenz.
Er hatte fürchterliche Angst, nicht vor dem was noch vor ihm lag, noch vor dem, was hinter ihm zurückblieb. Es war das beständige Gefühl der Anwesenheit von etwas Fremden und Unbegreiflichen. Er versuchte sich auf bekannte und gewohnte Dinge und Menschen zu konzentrieren, doch die ständige Bedrohung durch etwas Unbekanntes machte ihm mehr zu schaffen, als irgendetwas, dem er zuvor jemals ausgesetzt worden war.
Und wieder vergingen Stunden.

Der Himmel begann sich langsam zu erhellen. Der neue Tag kündigte sich an. Feuchte Nebelschwaden hingen weißen Tüchern gleich zwischen den Baumriesen. Fahlweiße Gespenster schienen mit unsichtbaren Augen jeden seiner Schritte zu verfolgen. Kastanienbäume warfen unheimliche Bilder, die ein Verrückter auf ihre Stämme geformt hatte. Über allem lag eine unausgesprochene Drohung. Er kramte hastig nach seiner Pfeife, in die er feuchten Tabak stopfte und mit den trockenen Zündelhölzern gierig zum Flammen brachte.
Blauer Rauch auf weißen Leichentüchern. Baumriesen, die mit ihren Ästen unaufhörlich seinen Körper streiften und behinderten.

Dann war die Morgendämmerung da und durchbrach die Düsternis.
Die unbändige Schönheit der aufgehenden Sonne riss einen tiefen, erlösenden Schmerz aus seiner Seele.
Von Würzburg war noch nichts zu sehen, geschweige von der Richtung, in die er sich eigentlich hätte wenden müssen. Er hatte sich verlaufen.
Doch der nahende Tag wärmte sein Herz und gab ihm Mut. Dann brach die Sonne durch das Gäst der Bäume und ließ den Wald im Leben erstrahlen. Überall Friede und Leben. Insekten schwärmten aus. Die kleinen Vögel zwitscherten eifrig den uralten Bäumen das Neueste aus dem Menschenland zu. Und die Bäume versprachen der Welt ihr Fleisch und ihren Samen. Geschockt erkannte er, dass er auch hier vor den Stimmen nicht sicher war.
War das die Schwelle zum Verrückt sein? Zum Verlieren im Sumpf der eigenen Phantasien?

Doch es war schon zu spät.
Die Eichen wiegten ihre Stämme im Takt einer unhörbaren Musik. Überall nur trügerischer Friede und uneigenständiges Leben!
Drohend webte sich ein Netz um ihn, dessen Fäden jeden seiner Gedanken belauerte. Niemals zuvor erschien ihm diese große Spanne zwischen der Welt der Menschen und dieser hier, die nach vollständig eigenen Gesetzen funktionierte.
Er sah das Tier und den Menschen. Er sah den Wald und spürte dessen Gewalt und unverrückbare Macht. Fleischgewordene Gedanken - Manifestationen der Erde!
Er sah die Bäume, auf deren Zweigen die verbotenen Früchte angeboten wurden. Er hörte die Stimmen und sah den Zweck. Er sah Mensch und Tier die Früchte sammeln und verspeisen. Er sah die Frucht als Teil der Stimmen, gefüllt mit schrecklichen Ahnungen. Er sah den Kreislauf und er verstand, dass der Mensch niemals alleine aufrecht gehen gelernt hatte.
Langsam begriff er die unabdingbare Abhängigkeit. Und das Wesen Wald sah er herrschen über die Erde.

Er saugte verstört an der inzwischen erkalteten Pfeife. Ihr kalter Rauch brannte im Mund.
Er stand auf einer Graslichtung und nahm all die unheimlichen Zeichen wahr. Irgendwie spürte er, dass er der Sammelpunkt, das Zentrum, den Botschafter für diese Mächte bildete. Und er wusste auch, dass kein menschliches Wesen erfahren durfte, was er erfahren hatte.
Er spuckte den Schleim aus, der sich in seinem Mund angesammelt hatte.
Nun war alles glasklar. Er wusste um das Opfer und um die Zukunft. Sein Herz war nun wie Eis. Und Entscheidungen spielten keine Rolle mehr...

Wer vermag zu sagen, ob das, was sich von da an abspielte, eine Illusion seiner überreizten Sinne, ein Produkt seines ausgebrochenen Wahnsinns oder die Wirklichkeit war. Zeugen gab es keine, als der uralte Baum sich vom Boden löste und auf seinen Wurzeln auf ihn zubewegte.
Letztlich war es auch egal, denn Bäume konnten sich nicht bewegen.


Epilog
Titelbericht der Würzburger Gazette vom 2. Mai 1924:
"Gestern Abend wurde ein junger Mann von einem Trupp Jäger tot aufgefunden. Der bisher noch nicht identifizierte junge Mann war auf einem Eichenast, der sich in drei (3) Meter Höhe befand, aufgespießt worden.
Welcher Teufel ist in der Lage eine solche, wahrhaft satanische, Tat zu begehen?
Die Umstände des Todes sind noch ungeklärt.
Sollte dieser Tote etwas mit den Ritual-Morden zu tun haben, die in einigen Landstrichen gerade in der Zeit, während der Walpurgisnacht, immer wieder auftauchen?
Die Walpurgisnacht ist die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai.
Ihr wird nachgesagt, dass in dieser Nacht das Verbundensein des Menschen außergewöhnlichen und überirdischen Mächten am Stärksten sei... "


 

 

 

Das Testament des Bösen ?

 

Zwielichte Straßen;
dumpfe Schritte hallen
an den kargen Häuserwänden wider.

Verstohlene Blicke
haschen den nächtlichen Besucher zu verfolgen.

Er bleibt stehen.

Knarrend öffnet sich eine Tür.
Der Schatten verschmilzt mit der Hauswand.

Hastig werden Vorhänge zugezogen.

Zitternde Menschenwesen
schlagen Kruzifixe über der Brust.

Dunkelheit senkt sich gnädig über die Sinne der nächtlichen Lauscher.


Der Tag bricht an.

Strahlend verkündet die aufgehende Sonne
den Sieg über die Nacht.

Irgendwo kräht ein Hahn.

Das Leben kann erneut beginnen.
Nur, ...

dort aus der Straße
huscht noch eine letzte Nachtkreatur.

Hier hat die Nacht,
die ewige Nacht,
den Sieg über den Tag errungen...


Ein Lächeln
gleitet über die Züge des nächtlichen Besuchers.

Wieder ist eine Schlacht gewonnen,
die ihm zu gewinnen nicht immer,
aber zu verlieren unmöglich ist.

Unmöglich ...
Wieder und wieder
gleitet diese Metapher
durch seinen Sinn.

Er blinzelt in die aufgehende Sonne und
verbirgt die große Sense
unter seiner schwarzen Robe.

Kein Blick zurück in jene Gasse
aus der lautes Jammern und Wehklagen ertönt.

Er wird zu gegebener Zeit hierher zurückkehren.


Inzwischen
bereitet sich eine befreite Seele darauf vor zurückzukehren
in den Schoss seines Ursprungs,

um
von dort erneut aufzubrechen,
in ein neues Gefängnis einer neuen Welt.

Und
der Hirte Tod wiegt seine selbstgefälligen Schäfchen
in traumlosen Schlummer.

 

 

 

Das Ei (Das Testament des Bösen)


Einst flog durch das unendliche All

ein Wesen

vollgesogen mit glitzerner Energie.

 

Es war auf der Suche.

Der Suche nach einem Gastkörper,

denn es war ein Parasit.

 

Es fand ihn

auf dem Planeten Erde

im Körper

eines eben geborenen Menschen.

 


D
och nun hat es längst vergessen ...